Beschluss des Ersten Senats des (deutschen) Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Mai 2013, 1 BvL 1/08

Leitsätze:

  1. Allgemeine Studiengebühren sind mit dem Teilhaberecht auf Zulassung zum Hochschulstudium aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip der Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar, solange sie nicht prohibitiv wirken und sozial verträglich ausgestaltet sind.
  2. Die Bremische Landesregelung, die bei der Auferlegung von Studiengebühren nach der Wohnung zugunsten von Landeskindern unterscheidet, verstößt gegen Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG, weil sie den danach notwendigen freien und gleichen Hochschulzugang in einem bundesweit zusammenhängenden System ohne hinreichenden Sachgrund beeinträchtigt.

Link: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/ls20130508_1bvl000108.html

 

Nicht nur in Österreich beschäftigen die Studiengebühren (genauer: der „Studienbeitrag“) die Höchstgerichte. Auch in Deutschland hatte das Bundesverfassungsgericht jüngst über eine Studiengebührenregelung in Bremen (§§ 2, 3 und 6 Bremisches Studienkontogesetz vom 18.10.2005) zu erkennen, die zusammenfassend vorsah, dass jene Studierenden, die „Landeskinder“ waren, ein Studienguthaben von 14 Semestern erhielten und in diesem Zeitraum damit keine Studiengebühr zahlen mussten; andere Studierenden dagegen erhielten ein Studienguthaben von lediglich zwei Semestern.  Nach Ende des Studienguthabens war jeweils eine Studiengebühr in Höhe von 500 Euro zu leisten.

Als solche „Landeskinder“ galten jene Studierenden die ihren Wohnsitz (bzw bei mehreren Wohnungen ihren Hauptwohnsitz) in der Freien Hansestadt Bremen hatten.

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe stellte die Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Normen mit folgendender Begründung fest:

Die zur Prüfung gestellten Regelungen des § 6 Satz 1 in Verbindung mit § 3 Abs. 1, § 2 Abs. 1 BremStKG, die auswärtige Studierende anders als Landeskinder behandeln, indem sie nach dem (Haupt-)Wohnsitz in Bremen unterscheiden und nur Auswärtigen ab dem dritten Semester eine Gebührenpflicht auferlegten, verstoßen gegen das Teilhaberecht aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG auf freien und gleichen Hochschulzugang in einem bundesweit zusammenhängenden System. (Rn 55)
[…]

Die vorgelegten Regelungen begründen eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte.
Studierende, die an Hochschulen in Bremen studieren und in Bremen wohnen, und solche, die in Bremen studieren, aber außerhalb Bremens ihren Wohnsitz haben, befinden sich hinsichtlich der Ausbildung, für die in den vorgelegten Vorschriften Gebühren erhoben werden, in einer vergleichbaren Lage. Beide nehmen das Studienangebot Bremens in gleicher Weise in Anspruch. Werden nur auswärtige Studierende zwischen dem dritten und 14. Semester mit Gebühren belegt, ist dies eine an den Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 GG zu messende Ungleichbehandlung. (Rn 59)

Es sind keine tragfähigen Sachgründe für die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung erkennbar. (Rn 60)

Als Rechtfertigungsgrund kann nicht allein auf den Wohnsitz oder Hauptwohnsitz und den hieraus folgenden Zugehörigkeitsstatus zum Land Bremen als solchen verwiesen werden. (Rn 61)
[….]

Vorliegend scheidet eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung in bloßer Anknüpfung an den Wohnsitz aufgrund der Besonderheiten des geregelten Sachbereichs aus. Landesrechtliche Regelungen im Bereich des Hochschulwesens haben eine spezifische gesamtstaatliche Dimension, die besondere Rücksichtnahme der Länder untereinander verlangt. Fällt eine Materie in die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers, greift aber der zu regelnde Lebenssachverhalt seiner Natur nach über Ländergrenzen hinaus und berührt wie hier das in allen Ländern gleichermaßen anerkannte Teilhaberecht auf freien und gleichen Hochschulzugang, dann sind einseitige Begünstigungen der Angehörigen eines Landes nur unter gesteigerten Anforderungen an ihre Rechtfertigung zulässig. Das Hochschulwesen ist ein solches bundesweit zusammenhängendes System, das zwar weithin in die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers fällt, in dem aber nicht alle Studiengänge überall angeboten werden und eine Nutzung der Ausbildungskapazitäten über die Ländergrenzen hinweg erforderlich ist (vgl. BVerfGE 33, 303 <352>). Daher darf beim Zugang zum Studium nicht pauschal nach Ländern differenziert werden […]. (Rn 63)

Tragfähige Sachgründe für die Rechtfertigung der differenzierenden bremischen Gebührenregelung, die mit der Hochschulausbildung in Zusammenhang stehen, sind vorliegend nicht ersichtlich. Die in der bremischen Regelung vorgenommene Gebührendifferenzierung ist nicht durch eine unterschiedliche Nutzung des Studienangebots gerechtfertigt (aa). Auch kann sich der Gesetzgeber zur Rechtfertigung nicht darauf berufen, mit der Regelung zur Wohnsitznahme in Bremen motivieren zu wollen, um so erhöhte Mittelzuweisungen im Rahmen des Länderfinanzausgleichs zu erlangen (bb): Die Gebühr lässt sich nicht mit dem Argument rechtfertigen, die aus dem Finanzausgleich dem Land zufließenden Zuweisungen enthielten einen Betrag zur Finanzierung der Ausbildung der Studierenden mit Wohnung in Bremen; deshalb dürften auswärtige Studierende landesgesetzlich verpflichtet werden, gleichfalls – statt über den Finanzausgleich durch Gebühren – ihren bremischen Studiengang finanziell mitzutragen. Das Gleiche gilt bei einer gezielten Zuweisung im Landeshaushaltsgesetz ausschließlich für Studierende mit Wohnung in Bremen. (Rn 64)

Die Gebührendifferenzierung dient nicht dem Ausgleich einer unterschiedlichen Inanspruchnahme des Studienangebots. Es ist nicht ersichtlich, dass Studierende mit (Haupt-)Wohnsitz außerhalb von Bremen Leistungen der bremischen Hochschulen in anderer Weise nutzten als Studierende mit (Haupt-)Wohnsitz in Bremen. Auswärtige Studierende verursachen weder höhere Kosten noch ziehen sie einen größeren Vorteil aus den von einer bremischen Hochschule angebotenen Leistungen. Der Wohnsitz, an den das Studienkontengesetz die Studiengebührenpflicht knüpft, hat keinen unmittelbaren Bezug zum Benutzungsverhältnis (so auch Kugler, Allgemeine Studiengebühren und die Grundrechte der Studierenden, 2009, S. 194). (Rn 65)

Auch das Ziel des Landes Bremen, durch finanziellen Druck Studierende zu einer Wohnsitznahme in Bremen zu veranlassen, damit das Land erhöhte Mittel im Rahmen des Finanzausgleichs erhält, trägt die Ungleichbehandlung nicht. Zwar sind die Länder und auch Gemeinden grundsätzlich nicht gehindert, Personen, die ihre Einrichtungen nutzen wollen, durch finanzielle Anreize oder finanziellen Druck zu veranlassen, auch ihren (Haupt-)Wohnsitz in das eigene Gebiet zu verlegen. […] Für die Erhebung von Studiengebühren, die (auch) dazu dienen, zur Wohnsitznahme zu motivieren, um so zusätzliche Mittel aus dem Länderfinanzausgleich zu erlangen, fehlt es jedoch an dem im Bereich des Hochschulwesens erforderlichen Sachzusammenhang. (Rn 66)
(Quelle: BVerfG, 1 BvL 1/08 vom 8.5.2013, http://www.bverfg.de/entscheidungen/ls20130508_1bvl000108.html)
Im Hinblick auf die einschlägige Judikatur des EuGH erscheint die gegenständliche landesgesetzliche Regelung nicht nur gegen deutsches Verfassungsrecht, sondern – in jenen Konstellationen, in welchen die Studiengebühren anderen Unionsbürgern vorgeschrieben wurden – darüberhinaus auch gegen primäres Unionsrecht zu verstoßen.
So stellte der EuGH insb fest, dass ein Wohnsitzerfordernis (in Stipendienbestimmungen) die Freizügigkeitsgarantien verletzen und unverhältnismäßig sein kann, wenn es zu einseitig ist, indem es „einem Umstand unangemessen hohe Bedeutung beimisst, der nicht zwangsläufig für den tatsächlichen und effektiven Grad der Verbundenheit repräsentativ ist, und jeden anderen repräsentativen Umstand ausschließt“ (EuGH 20.6.2013, Rs C-20/12, Giersch et al, Rn 72).