EuGH 18.07.2013, C‑523/11 ua

Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV und 21 AEUV – Recht auf Freizügigkeit und auf freien Aufenthalt – Ausbildungsförderung, die den Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats für ein Studium in einem anderen Mitgliedstaat gewährt wird – Mindestens dreijährige Residenzpflicht im Herkunftsmitgliedstaat vor Beginn des Studiums

Die von den deutschen Staatsbürgern, Frau Prinz und Herrn Seeberger, gestellten Förderungsanträge nach dem deutschen BAföG (Bundesausbildungsförderungsgesetz) wurden jeweils  mit Bescheid vom 4. Mai 2010 mit der Begründung abgelehnt, da sie das im BAföG aufgestellte Wohnsitzerfordernis im Sinne eines dreijährigen, ununterbrochenen Aufenthalts in Deutschland nicht erfüllt hätten.

Im weiteren Verfahren legten das Verwaltungsgericht Hannover und das Verwaltungsgericht Karlsruhe folgende Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor:

  1. Stellt es eine unionsrechtlich nicht gerechtfertigte Beschränkung des durch die Art. 20 und 21 AEUV verliehenen Rechts auf Freizügigkeit und Aufenthalt für Unionsbürger dar, wenn einer deutschen Staatsangehörigen, die ihren ständigen Wohnsitz im Inland hat und eine Ausbildungsstätte in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union besucht, Ausbildungsförderung nach dem BAföG für den Besuch dieser ausländischen Ausbildungsstätte lediglich für ein Jahr gewährt wird, weil sie bei Beginn des Auslandsaufenthalts nicht bereits seit mindestens drei Jahren ihren ständigen Wohnsitz im Inland hatte?

  2. Steht Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegen, die die Bewilligung von Ausbildungsförderung für das Studium in einem anderen Mitgliedstaat ausschließlich aus dem Grund versagt, weil der Auszubildende, der vom Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, bei Studienbeginn nicht seit mindestens drei Jahren den ständigen Wohnsitz in seinem Herkunftsmitgliedstaat hat?

Aus den Erwägungsgründen des EuGH:

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar anerkannt hat, dass es legitim sein kann, wenn ein Mitgliedstaat – um zu verhindern, dass die Gewährung von Beihilfen zur Deckung des Unterhalts von Studierenden aus anderen Mitgliedstaaten zu einer übermäßigen Belastung wird, die Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe, die dieser Staat gewähren kann, haben könnte – solche Beihilfen nur Studierenden gewährt, die nachgewiesen haben, dass sie sich bis zu einem gewissen Grad in die Gesellschaft dieses Staates integriert haben, wobei entsprechende Erwägungen grundsätzlich auch für die Gewährung von Ausbildungsförderung durch einen Mitgliedstaat an Studierende gelten können, die ein Studium in anderen Mitgliedstaaten absolvieren möchten, wenn für diesen Mitgliedstaat die Gefahr besteht, eine solche übermäßige Belastung tragen zu müssen […].

Nach ständiger Rechtsprechung darf jedoch der von einem Mitgliedstaat verlangte Nachweis für die Geltendmachung des Bestehens eines tatsächlichen Bandes der Integration keinen zu einseitigen Charakter haben, indem er einem Gesichtspunkt, der nicht zwangsläufig für den tatsächlichen und effektiven Grad der Verbundenheit des Antragstellers mit diesem Mitgliedstaat repräsentativ ist, unangemessen hohe Bedeutung beimisst und jeden anderen repräsentativen Gesichtspunkt ausschließt […].

Auch wenn das Vorliegen eines gewissen Grades der Integration aufgrund der Feststellung, dass ein Studierender sich während eines gewissen Zeitraums in dem Mitgliedstaat aufgehalten hat, in dem er eine Ausbildungsförderung beantragt, als erwiesen gelten kann, birgt ein alleiniges Wohnsitzerfordernis der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art […] die Gefahr, dass von der betreffenden Förderung Auszubildende ausgeschlossen werden, die zwar unmittelbar vor Beginn des Auslandsstudiums ihren Wohnsitz nicht drei Jahre lang ununterbrochen in Deutschland hatten, aber gleichwohl eine ausreichende Verbundenheit mit der deutschen Gesellschaft aufweisen. Dies kann der Fall sein, wenn der Studierende die Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats besitzt und dort einen erheblichen Teil seiner Schulzeit verbracht hat, oder aufgrund anderer Faktoren wie etwa seiner Familie, seiner Beschäftigung, seiner Sprachkenntnisse oder des Vorliegens sonstiger sozialer oder wirtschaftlicher Bindungen. Zudem können nach anderen Bestimmungen der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung Faktoren neben dem Wohnsitz desjenigen, der die Förderung beantragt, sowohl für die Ermittlung des Mittelpunkts seiner Lebensbeziehungen als auch zur Klärung der Frage relevant sein, ob die Voraussetzungen für die Gewährung der betreffenden Förderung im Fall eigener Staatsangehöriger mit Wohnsitz im Ausland erfüllt sind. […]

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 20 AEUV und 21 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der die über einen Zeitraum von einem Jahr hinausgehende Gewährung einer Ausbildungsförderung für ein Studium in einem anderen Mitgliedstaat allein davon abhängt, dass eine Voraussetzung wie die in § 16 Abs. 3 BAföG vorgesehene erfüllt ist, die vom Antragsteller verlangt, dass er während eines Zeitraums von mindestens drei Jahren vor Beginn dieses Studiums einen ständigen Wohnsitz im Sinne dieses Gesetzes im Inland hatte.